Ein verstohlener Blick nach unten, ein kurzes Hochziehen der Augenbrauen nach oben. Ein paar Tage hat es gedauert bis ich verinnerlicht habe, dass diese Geste wohl für "ja" steht - im Gegensatz zum Türkischen, wo es als Ausdruck des gegenteiligen "neins" dient. Genauso der bestätigende Laut "o-o", im Gegensatz hierzu die verneinende Bedeutung im Türkischen. Nur ein kleiner Einblick in eine gänzlich neue Welt, an die ich mich zunächst einmal herantasten musste. Die Mangyans als Einheimische Mindoros, welche abgeschieden tief im Dschungel in den Bergen leben, und teilweise noch nie einen Arzt zu Gesicht bekommen haben. Krankheitsbilder, die man sonst nicht in solcher Ausprägung zu Gesicht bekommt. Begrenzte Möglichkeiten, die ein völlig anderes Vorgehen verlangen als man es zu Hause tun würde. Theoretisch hat man die Möglichkeit, Patienten in ein öffentliches Krankenhaus in eine größere Stadt einzuweisen. Praktisch ist das oft nicht mehr als nur ein Akt der Verzweiflung, denn häufig ist es ein unglaublicher Aufwand für den Patienten, das überhaupt in die Tat umzusetzen. Und sei dies geschafft, mangelt es dann entweder an Möglichkeiten der Diagnostik oder scheitert spätestens an einer nicht realisierbaren Therapie. Ein vor Hunger schreiendes 4 Monate altes Kind, das krank und abgemagert aussieht und nicht mehr als ein Neugeborenes auf die Waage bringt, könnte in ein Ernährungsprogramm aufgenommen werden, müsste dafür aber für einige Zeit weg von der Familie. Die Mutter wird sich das überlegen und geht erst einmal wieder heim. Bei uns wäre das ein Fall für das Kinderschutzteam. Ein anderes Kind mit ausgeprägter Dyspnoe und sichtlichem O2-Bedarf bei Pneumonie hätte ich daheim auch nicht aus der Klinik gehen lassen, hier wollten die Eltern es die nächsten Tage erst einmal mit einer oralen Antibiotikatherapie versuchen. Zwischendurch erscheinen Eltern und geben die Krankenkarten verstorbener Kinder zurück.
Eine steile Lernkurve habe ich hinter mir, 
sei es menschlich oder medizinisch. Menschlich, weil man in eine Welt 
eintauchen kann, die man für kein Geld der Welt so geboten bekommen 
könnte. Viele Gedankenspiele, viele Vergleiche. Kinder, die mit einem 
kaputten Flipflop eine Art Brennball/Völkerball spielen, wobei sie sich 
damit abwerfen, wegrennen, fangen, einen Parcours durchlaufen müssen; 
Kinder die vor der Playstation sitzen, weil ihnen oft keine Alternative 
geboten wird. Alte Menschen, die unglaublich schwere Lasten auf 
kilometerweite Strecken tragen müssen - weil sie es müssen; Menschen, 
die durch Arbeiten weniger herausbekommen würden als wenn sie arbeiten 
würden. Kinder, die mit tiefen dreckigen Fleischwunden an den Füßen mit 
großer Freude durch den Matsch springen; Eltern, die über eine Krankheit
 im Internet gelesen haben und das nun abgeklärt haben möchten. Schwer 
kranke Patienten, die Tagesmärsche hinter sich haben und dann auch noch 
den ganzen Tag geduldigst warten und tiefe Dankbarkeit im Anschluss 
zeigen, auch wenn man gar nicht viel machen konnte; Eltern, die es 
ungeheuerlich finden, dass man mit einem fiebernden Kind nicht 
augenblicklich drankommt und von Kopf bis Fuß durchgecheckt wird.
2
 Wochen lang fährt man mit der Rolling clinic jeden Tag in eine andere 
Barangay, ein anderes Dorf. Sowohl im Süden als auch im Norden. Nach 
einem Monat wiederholen sich die Einsatzorte. Wenn ich meine 
Patienteneinträge einen Monat später fortsetzen wollte, konnte ich 
bereits merken, wieviel ich mittlerweile wieder hinzugelernt hatte und 
wie sehr ich manchmal mein Vorgehen von noch einem Monat zuvor wieder 
anzweifelte. Als Pädiater freute ich mich auch über geriatrische, 
gynäkologische, chirurgische, HNO-mäßige und dermatologische 
Fortschritte, die ich rasch bemerken konnte.
Alles in
 allem war es eine sehr schöne Zeit, die ich nicht missen möchte. Ich 
bin sehr gespannt, ob und was sie mit mir macht, wenn ich wieder in der 
Klinik in Deutschland bin. Ich bin sehr dankbar für viele Momente, die 
mir noch immer Gänsehaut bereiten, wenn ich nur an sie denke, so wie 
der 20 jährige junge Mann, der auf die Frage, wieviele nächtliche 
Hustenattacken er im letzten Monat hatte, bloß antworten konnte, er 
wisse es nicht, er habe nie zählen gelernt.
 
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